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Hellmut Finsterlin
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Rezension des Buches
„Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien“
von Sergej O. Prokofieff
„Wir müssen uns nur den ganzen Umfang der geistigen Weisheit, welche dank
der Erdentätigkeit Rudolf Steiners in die Welt kam, klar vorstellen. Wo
finden wir noch etwas ähnliches in der gesamten äußeren Geschichte der
Entwicklung der Menschheit? `Schon ästhetisch ist der Anblick dieses
umfassenden Geist und Materie umspannenden Weltbildes etwas ganz
Gewaltiges. Man kann von der Geistesgeschichte der Menschheit etwas
wissen und muß gerade dann die Frage stellen: Wo hat die Menschheit etwas
ähnliches erlebt? Aristoteles, Thomas von Aquin – hier war noch
mehr…´(Fr. Rittelmeyer: Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner.
Stuttgart 1980). Diese Worte Rittelmeyers weisen auf den Platz Rudolf
Steiners in dem geistigen und kulturellen Leben der westlichen Menschheit
hin. Alle grundlegenden Erwartungen der westlichen Menschheit, die
Probleme um Christus, das individuelle Ich, die Freiheit des Willens, das
Wesen des Denkens, die Wissenschaft, die Kunst, die Religion – all` diese
Fragen finden wir zusammengefasst bei Rudolf Steiner wie in einem
umfassenden Zentrum, und aus ihm strahlen sie in sechstausend Vorträgen,
in Dutzenden von Büchern und Aufsätzen in die Welt. Das ganze Bild des
geistigen Lebens der Menschheit und des Kosmos steht vor uns. Zum ersten
Mal kommt es in die Welt und wir müssen sagen: woher kann es kommen, wenn
nicht von jenen, die in Wahrheit dieses geistige Leben der Menschheit
führen, verwirklichen und ihm Richtung geben. Wir können uns innerlich
nicht vollkommen als Anthroposophen bezeichnen, wenn wir nicht ganz und
gar begreifen, dass, wenn Rudolf Steiner z. B. in seinen Vorträgen von
dem Bodhisattva sprach, der Bodhisattva neben ihm war, wenn er von
Christian Rosenkreuz, von Manes, Skythianos, Zarathustra, Buddha sprach,
alle diese großen Lehrer der Menschheit vor seinem geistigen Auge standen
und ihn segneten in seinem Dienst für sie und die Menschheit, indem sie
ihm ihr eigenes Wesen offenbarten. Das ist die geistige Realität, die
jeder Anthroposoph unbedingt erkennen muß. Daraus folgt aber auch die
große Verantwortung jener, die jetzt das Werk Rudolf Steiners auf der
Erde fortsetzen. Die Verantwortung jedes Anthroposophen, die er
unmittelbar vor der geistigen Welt hat und in erster Linie vor denjenigen
hohen geistigen Wesenheiten, die durch ihren großen Vertreter die neue
geistige Offenbarung auf die Erde sandten. Das Schicksal dieser
Offenbarung ist nun unabänderlich mit dem Schicksal der ganzen Menschheit
verbunden.“
Diese, vielleicht etwas zu wortreiche und im Gedankengang nicht immer
ganz logische (wir finden „Fragen“ zusammengefaßt im Werke Steiners)
Charakteristik des Geistes, den wir unter dem Namen Rudolf Steiner
kennen, könnte man sich sehr wohl an zentraler Stelle einer Schrift
denken, die von der „Grundlegung der neuen Mysterien“ handelt. Man könnte
sie sich zur Einleitung oder auch als Resultat der Untersuchung
vorstellen. Sie ist von Prokofieff verfasst und sie steht in seinem Buch,
aber nur nebenbei als Anmerkung 40 zum dritten Kapitel. Mir scheint,
diese Platzierung sagt viel mehr aus als viele Worte, muß man sich doch
fragen, ob der Verfasser das, was er schreibt, auch wirklich begriffen
hat? Oder sprudelt aus ihm als Ergebnis vielen Lesens – er kennt sich in
der anthroposophischen Literatur sehr gut aus – nur wieder heraus, was er
sich fleißig einverleibt hatte? Sprudelt es, von seinen Eigenheiten in
Form von Spekulationen, Konstruktionen, die sich in seiner Seele fast von
selbst vollziehen, wie aus einem überfüllten Gefäß, wie aus einem
Brunnen, dessen Fluß willkürlich unterbrochen werden müsste, um
Überschwemmung zu verhüten? Wahr ist soweit, was Prokofieff da erklärt.
Ob er dieser Wahrheit gerecht zu werden vermag, das muß der Inhalt des
Buches erweisen.
Die Aufgabe, die sich der zum Zeitpunkt der Abfassung 27 bis 28 jährige
stellt, also die „Grundlegung der neuen Mysterien“, also der Mysterien
des 20. Jahrhunderts, anhand der siebenjährigen Lebensepoche Rudolf
Steiners darzustellen, ist eine gewaltige! Bestünde die Hoffnung, ein
solches Werk zu schaffen, dann nur, wenn man davon ausgehen könnte, dass
der Verfasser selbst in diese Mysterien eingedrungen ist. Dies bedeutete,
dass er wenigstens den Gesellengrad der Initiation erreicht hätte. Es
könnte dann zwar noch nicht ein umfassendes und in sich voll begründetes
Werk entstehen, aber es könnten Gesichtspunkte hervorgeholt werden, die
die Leserschaft zum weiteren Studium anleiten, und es wären der
Fehlerquellen weniger als bei jemandem, der nur eben gelesen und studiert
hat.
Nimmt nun jemand die sieben Entwicklungsphasen ernst, so muß er sich,
sofern er das vierte Jahrsiebt eben bewältigt hat frage, wieweit ihm die
Möglichkeit, Mysterien zu begreifen, offen stehen. Der Autor muß ja etwas
von diesen Lebensprozessen wissen, wenn er diejenigen Rudolf Steiners in
Betracht zieht.
Rudolf Steiner selbst, begabt wie kein anderer, fand offenbar nicht, dass
er vor seinem 40. Lebensjahr in der Lage war, mit den Inhalten von
Mysterien an die Öffentlichkeit zu treten. Seine erste Schrift, die in
diese Richtung zielt, erschien 1902. Ihr Titel: „Das Christentum als
mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums“, ein anspruchsloser
Titel im Vergleich zu dem, den sich Prokofieff wählte. Konnte dessen
Unterfangen gelingen? Wir glauben: nein. Anhand einiger Beispiele möchten
wir das begründen.
Vielreden – ein Hindernis
Was einem, je weiter man im Lesen des Textes kommt, desto unangenehmer
entgegentritt, ja einen mit Beschlag belegt und in Vorstellungen zu
drängen sucht, die von den Realitäten eher ab-  als hinführen, das ist
die ungeheure Wortfülle. Jeder Anthroposoph, der in regelrechter Bemühung
von den Anfängen an schrittweise seinen Erkenntnisweg pilgerte weiß, dass
er schon früh in einer Phase des „Mundüberlaufens“ gerät. Wir kennen
dieses Phänomen gut, über das mancher, selbst wenn er alt und grau
geworden, nie hinauskam, obgleich die Schätzperiode nur eine kurze
Durchlaufphase bleiben dürfte. Dem werdenden Anthroposophen, also
demjenigen, der seinen anthroposophischen Erkenntnisweg eben antritt,
kann man nur raten, diese Anfangsphase besonders wachsam zu beobachten
und sie so kräftig wie möglich niederzuringen.
Prokofieff kennt da keine Hemmungen. Offenbar fand er keinen Lehrmeister,
der ihm nahegelegt hätte, auf dieses von Rudolf Steiner schon in den
grundlegenden Schulungsschriften beschriebene Phänomen gehörig zu achten.
Ganz besonders peinlich kommt einem diese Schwäche des Autors entgegen
dort, wo er im Zusammenhang mit der Grundsteinlegung des Goetheanum 1913
und mit den später gehaltenen Vorträgen Rudolf Steiners über das fünfte
Evangelium auf das makrokosmische Gebet eingeht. Das erstreckt sich über
viele Seiten und es geschieht das, was einem der tiefsten Mysterienworte
niemals zustoßen dürfte: der Autor zerredet es völlig. Der Leser verliert
den Text und nimmt stattdessen Gerede über Gerede auf. So treibt man
seine Leser von der Substanz fort statt sie hinzuführen, was der Autor
doch eigentlich möchte.
Gelangt der Geistesschüler im Verlaufe seiner Bemühungen und Übungen in
die Nähe der Schwelle, so tritt ihm, vom Schwellenhüter ausgehend die
Warnung entgegen, sich vor dem unbedachten Gebrauch des Wortes zu hüten.
Jedes unbedachte Wort, jedes Wort zu viel – übrigens auch jedes zu wenig
– gestaltet sich zum ernsten Hindernis. Der Vielredner ist
außerordentlich gefährdet! Er wäscht sozusagen alles, was er sich in
mühevoller Arbeit an Tugenden erworben haben mag, mit einem einzigen
Redeschwall wieder hinweg. Es gibt Leute, die so furchtbar viel reden,
dass sie nicht nur gegenwärtig Erworbenes zerstören, sondern auch gute
Anlagen, die sie in diesem Erdenleben aus den Erträgnissen früherer Leben
mitbrachten. Die Folge ist, wie man sich leicht denken kann, dass der
Schüler nicht nur nicht vorankommt, sondern zurückfällt. Es ist dann oft
sehr schwer, wenn nicht unmöglich, diesen Rückschritt noch in diesem
Leben wieder in ein Fortschreiten umzuwandeln. Und das ist für den
Betroffenen, wenn er dessen dann einmal inne wird, nicht nur traurig,
sondern wirklich tragisch!
Der Leser von Büchern, die sich im Vielreden über die tiefen
Menschheitsgeheimnisse ergehen, sei nachdrücklich gewarnt! Er kann solche
Schrift nur dann unbeschadet aufnehmen, wenn er es unter Anwendung
wacher, geschärfter Bewusstseinskräfte tut!
Es ist bezeichnend, dass dem Autor gelegentlich Sätze miteinfließen, die
andere kritisieren sollen, auch nichts Verkehrtes aussagen, in
Wirklichkeit aber ihn selbst treffen. So etwas kommt aus dem durchaus
selbstkritischen Unterbewußtsein hervor. Er meint (Seite 118), die
anthroposophischen Tochtergründungen hätten nicht nur die „schönsten
Früchte“ gezeitigt, sondern auch Schwierigkeiten mit sich gebracht.
„Diese entstanden jedoch … vor allem dadurch, dass viele Anthroposophen,
die die anthroposophischen Impulse mit Begeisterung in wichtige Lebens-
und Tätigkeitsbereiche hineintrugen, aus ungenügender Vorbereitung das
eigentliche Wesen der Anthroposophie doch nicht erkannt hatten. Sie
hatten nicht verstanden, dass der Anthroposophie von Anfang an ein tief
esoterischer Charakter eigen war und ist, den sie auch immer bewahren
wird…“
Wie wahr! Die Frage ist nur, wie weit die Tiefe desjenigen reicht, der
das Tiefe als tief erfasst? Esoterik bedeutet soviel wie Geheimlehre.
´Diese verträgt es auch im Zeitalter der Offenlegung der Mysterien nicht,
dass man mehr von ihr und um sie herum redet, als unbedingt notwendig
ist. Wie viel notwendig ist, das muß der Esoteriker, der Okkultist, genau
wissen. Weiß er es nicht wirklich ganz genau, dann muß er sich ein Schloß
vor den Mund legen. Auf diesem Felde ist es sehr viel besser, nichts als
etwas Falsches zu sagen.
Opferte Rudolf Steiner seine vier leiblichen Wesensglieder?
1. Opferung des „Ich“?
Der erste Teil des Buches behandelt „Das Mysterium von Rudolf Steiners
Lebensweg“. Darin stellt der Autor die These auf, Steiner habe zwischen
seinem 35. und 42. Lebensjahr sein Ich, dann im nächsten Jahrsiebt seinen
Astralleib, später seinen Ätherleib und von seinem 56. Lebensjahr bis zu
seinem Tode seinen physischen Leib geopfert. Die Denkschwäche ist leicht
aufgezeigt. Steiner begann seine Lehrtätigkeit als Anthroposoph
bekanntlich nach der Jahrhundertwende. Nach Prokofieff wirkte er kurz
danach gar nicht mehr selbst, sondern das Wesen, dem er sein Ich
hingegeben hat. Entsprechendes tritt dann spätestens 1910 ein, wo der
Astralleib in den Besitz jenes Bodhisattva übergegangen ist, der nach
Ablauf von drei Jahrtausenden die Buddha-Würde erlangen wird. Steiners
Eigenart ist dahin. Derjenige allerdings, dem er, nach Prokofieff, seinen
Ätherleib hinopfert, hätte ihn ja, nimmt mans genauer, eher erheblich
stärken müssen. Die Opferung des physischen Leibes schließlich konnte für
die Entwicklung der Anthroposophischen Gesellschaft nur hinderlich sein
(wie sich gezeigt hat).
Unwillkürlich drängt sich uns das Bild einer aus vier Puppen bestehenden
Babajaga auf, von der eine nach der anderen „geopfert“ wird bis alle vier
weg sind. Man stellt sich offenbar die vier leiblichen Hüllen des Seelen-
und Geistwesens Mensch so ähnlich vor und die Frage, wo denn nun die
Individualität Rudolf Steiners bleibt, gerät ins Ungewisse.
Wir wollen das aber nun nicht einfach abtun, sondern versuchen, näher zu
begründen, warum solche „Opferung“ leiblicher Wesensglieder, sei es in
Bezug auf Rudolf Steiner oder irgend einer anderen Persönlichkeit, eine
ziemlich unmögliche Vorstellung ist.
Das Ich, führt Prokofieff aus, opfert Steiner im Sinne des Pauluswortes
in der Nachfolge – natürlich nicht in der „Nachahmung“ (Prokofieff) –
Christi. Nun ist dieses Zurücktreten des Selbst vor dem höheren, dem
wahren Ich als Welten-Ich, nicht etwas, was der entsprechend entwickelte
Mensch permanent durchführen kann oder soll. Es gibt bestimmte
Handlungen, die, wenn sie wirklich gelingen sollen, ganz und gar in der
Hingabe des eigenen Ich erfolgen müssen, z. B. die Opferung des Priesters
vor dem Altar, z. B. die Heilbehandlung von Kranken, z. B. auch die
Arbeiten mit den biologisch-dynamischen Präparaten, wie ich es öfter
ausgeführt habe.
Etwas anders verhält es sich bei den Erkenntnisprozessen, die auf – im
Steinerschen Sinne – Intuition beruhen. Ein Urbild solcher Prozesse ist
das Gewahrwerden der Urpflanze bei Goethe. Der goetheanische
Erkenntnisakt kommt dadurch zustande, dass der Erkennende selbst zu dem
Wesen wird, das er erkennen will. Wenn dieses beispielsweise eine Pflanze
ist, so wird der Erkennende selbst zu dieser Pflanze, ohne jedoch sein
Selbstbewusstsein dranzugeben. Er muß dieses Bewahren, sonst hat für ihn
der ganze Vorgang keinen Sinn. Die Pflanze hat ein Bewußtsein, das dem
unseres Tiefschlafes ähnelt. Der Erkennende muß zwar zur Pflanze werden,
aber doch dabei sein Wachbewusstsein bewahren. Über meinem Pflanzensein
muß ich noch als Erkennender stehen und dieses, mein neues (und
vorübergehendes) Wesen beobachten können.
Würde ich aber nun fortschreiten dazu, das Ergebnis meines
Erkenntnisaktes druckreif zu Papier oder vortragsreif zur Sprache zu
bringen, dann könnte ich meines gewöhnlichen, meines niederen Ichs nicht
entbehren, denn nur dieses kann mit Papier, Schreibgerät, kann mit
Orthographie, Interpunktion, Syntax usw. umgehen. Von einem „Hinopfern“
meines Instruments, meines Alltags-Ich, kann also, so gesehen, keine Rede
sein, wohl davon: „Verliere dich, um dich zu finden“. Rudolf Steiner hat
ganz gewiß dies in hervorragendem Beispiel vorgelebt und in seinen
Schulungsschriften vor allem auch beschrieben, wie der Schüler dazu
kommen kann, selbst die Stufen des Sich-Verlierens zu beschreiben. Nun
aber die Selbstverständlichkeit, Rudolf Steiner habe „sein Irdisches Ich
dem Christus“ geopfert, „damit ER aus seiner physischen Hülle spreche“
als etwas ganz Außergewöhnliches, Steiner ganz besonders und eigentümlich
Charakterisierendes hinzustellen, ist doch, geht man näher ein auf das
menschliche Erkenntnisstreben im rosenkreuzerischen Sinne, eher eine
Hrabsetzung des Geistes Rudolf Steiners als eine Hervorhebung,
insbesondere wenn dies in einer exklusiven „Anregung zur
anthroposophischen Arbeit“ geschieht.
2. Opferung des Astralleibs?
Auf Seite 78 faßt Prokofieff seine Meinung von dem zweiten Opfer Rudolf
Steiners so zusammen:
„Rudolf Steiner opferte als Eingeweihter seinen irdischen Astralleib,
indem er ihn der hohen geistigen Wesenheit des Bodhisattva zur Verfügung
stellte, der von nun an durch ihn sprach. Diese Tat ist die zweite Stufe
auf dem großen Opferweg Rudolf Steiners. Das vollzog sich zwischen
1906-1907, etwa in der Mitte seines 7. Lebensjahrsiebts, das unter dem
Zeichen der Kräfte des Geistselbst steht; mit diesem Ereignis hat auch
die Autobiographie `Mein Lebensgang´ ihren folgerichtigen Abschluß
erreicht. Denn das Wort „mein“ kann Rudolf Steiner von nun an nicht nur
auf sich als Erdenmensch anwenden, sondern auch auf die durch ihn
wirkenden kosmischen Wesenheiten.“
Im Anschluß an diese Unmöglichkeit findet sich die Anmerkung, die wir als
Eingangszitat anführten.
Zunächst: Was eigentlich ist ein „irdischer Astralleib“? Ein Astralleib
ist doch wohl nie „irdisch“, es sei denn, es gäbe im Gegensatz dazu auch
„himmlische Astralleiber“. Wir wollen indessen nicht haarspalterisch
sein, sondern auf die sehr mangelhafte Vorstellung an sich eingehen.
Wimbauer verlegt die Einwohnung des Bodhisattva in das 36., Prokofieff
dieselbe dagegen nun in das 46. Lebensjahr, Steiner sagt jedoch ganz
klar, eine solche vollzöge sich – wenn überhaupt – zwischen dem 30. und
33. Lebensjahr. Aber was sind schon jungen Schriftstellern sechs oder
zehn Jahre! Ein Nichts im Weltenall! … Was nun aber wirklich vorliegt,
das machen sich weder der Verfasser noch seine ihn lobenden Rezensenten
klar. Ich will versuchen, das zu erklären.
Unter ungezählten kann man z. B. eine gewisse Orientierungshilfe finden
in einer kurzen Zusammenfassung Steiners über das Wesen der drei
ursprünglichen Grade der freimaurerischen Initiation (Berlin, 4.4.1916 in
„Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste“. 4. Vortrag. GA 167).
Es handelt sich um für jede Art von Initiation maßgebliche, hier
Lehrling, Geselle, Meister genannte Stufen. Der dritte Grad, den man
Rudolf Steiner wohl zugestehen wird, unterscheidet sich von den beiden
unteren dadurch, dass der, der ihn erreicht hat, willkürlich jederzeit
seinen physisch-ätherischen Leib verlassen und bei vollständiger
Beibehaltung des Selbstbewusstseins höhere Welten aufsuchen, und dann
auch aus eigenem Entschluß wieder in die physisch-ätherische Hülle
zurückkehren kann. Es ist hier also eine höhere Fähigkeit erreicht.
Sollte nun die Notwendigkeit gegeben sein, dass ein solcher Eingeweihter
eine Verständigung, sagen wir mit jenem Bodhisattva sucht, der einst in
3000 Jahren zum Maitreya-Buddha aufsteigen wird, so hat er es nicht
nötig, ihm deshalb seinen Astralleib „hinzuopfern“, sondern er wird sich
mit ihm in höheren Welten treffen. Es gibt ja – und es finden fortwährend
statt – „Konferenzen“ freier Geister in höheren Welten. Ohne sie life gar
nichts auf Erden.
Es bleibe bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt, dass der Dilettantismus
in Sachen Okkultismus in anthroposophischen Kreisen seit Jahrzehnten die
jammervollsten Blüten treibt. Besonders lächerlich muß das dem Kenner
erscheinen, wenn dann auch noch der Anspruch durchscheint, man wisse
alles viel besser.
Wie steht nun der Geist Rudolf Steiners zu diesem Bodhisattva? In seiner
auf eine spätere Zeit bezüglichen Anmerkung (zu Seite 134 auf Seite 420,
Nr. 136) bringt Prokofieff folgendes:
„Zu dieser Zeit erreichte Rudolf Steiner in seiner individuellen
Entwicklung auch jene Stufe der Einweihung, die von Christian Rosenkreuz
im 15. Jahrhundert, wenn auch in einer seiner Zeit entsprechenden Form,
erreicht worden war und die später in mehr bildhafter Weise in dem Buch
von Valentin Andreä `Die chymische Hochzeit des Christian Rosenkreuz anno
1459´ beschrieben worden ist.“ Nebenbei bemerkt: Der Namen Christian
Rosenkreutz wird mit einem „tz“ geschrieben. Aber – w e r  sagt dem gutem
Prokofieff, wann und wie Rudolf Steiner seine Einweihungsstufen
zurücklegte? Kann man so etwas mit der Forschheit der Jugend
entschuldigen? Wer hat da gefehlt, der junge Mann oder seine Lehrer?
Allein, um dessentwillen zitiere ich die Stelle nichteinmal. Prokofieff
fährt nämlich fort:
“Dies wirft auch ein Licht auf die folgende Imagination, die Rudolf
Steiner gab, als er nach der Weihnachtstagung über das Verhältnis von
Anthroposophie und Rosenkreuzerströmung gefragt wurde: links steht
Christian Rosenkreuz in einer blauen Stola, rechts Rudolf Steiner in
einer roten; in  d i e s e r  Imagination stehen sie nebeneinander.“
(Sperrung vom Verfasser).
Prokofieff gibt nicht an, woher er das hat. Beschrieben wird es von E-
Kirchner-Bockholt in „Die Menschheitsaufgabe Rudolf Steiners und Ita
Wegmann“ (Dornach 1976, im Kapitel „Rudolf Steiners Mission“. Dort geht
es dann um ein Initiations-Mantram. Es heißt dann:
“Zu dem zweiten Teil des Spruches hatte Rudolf Steiner gesagt, man solle
sich auf den Altar zuschreitend denken, selbst in weißem Gewande, vor dem
Altar links Christian Rosenkreuz, rechts Rudolf Steiner mit der roten
Stola. Diesen Altar muß man sich in der geistigen Welt denken. Ein
anderes Mal sagte Rudolf Steiner, in der geistigen Welt stehen beide
nebeneinander, mit diesen Stolen bekleidet.“
Man beachte: Prokofieff sagt „in  d i e s e r  Imagination stehen sie
nebeneinander. Warum verwandelt er die Aussagen so geringfügig, dass man
es kaum merkt? Weil sie sonst nicht in sein Schema passt! Es soll dies
eben nur für  e i n e , für diese Imagination zutreffen. Was liegt denn
nun aber wirklich vor?
In dieser Hinsicht ist der wahrlich nicht fehlerfreie Hermann Keimeyer
seinen Nebenbuhlern Herbert Wimbauer und jetzt auch Sergej Prokofieff
haushoch überlegen. Er hat längst begriffen, dass ihrer Einweihungsstufe
nach, d. h. ihrer hierarchischen Höhe nach, Christian Rosenkreutz und
Rudolf Steiner auf der gleichen Höhe stehen. Doch auf welcher Höhe stehen
diese erlauchten Geister? Wir können das wenigstens empfindend begreifen,
wenn wir aus den Neuchateler Vorträgen des Jahres 1912 (in GA 130) „Die
Mission des Christian Rosenkreutz, deren Charakter und Aufgabe“ erfahren,
dass es Christian Rosenkreutz ist, der dem Buddha – der im 6. Jahrhundert
vor Christus zur Buddha-Würde aufstieg – einen ganz bestimmten Auftrag
erteilt. Es geht daraus ja auch hervor, dass Rosenkreutz hierarchisch auf
einer höheren Stufe als der große Buddha steht. (Das muß nicht so sein,
es kann durchaus auch ein hierarchisch niedriger stehendes Wesen einem
höheren einen Auftrag erteilen. In diesem Fall scheint es mir auch so zu
sein. Zum Beispiel lernen höhere Wesen auch von hierarchisch unter ihnen
stehenden manches, so zum Beispiel die Engelwesen von den Menschen, was
es mit der Freiheit auf sich hat. Engel kennen, so Rudolf Steiner, keine
Freiheit, nur Notwendigkeit und sind diesbezüglich auf die Menschen
angewiesen. Einfüg. A. W.). Man lasse diese Tatsache mit ihrem ganzen
Gewicht auf sich wirken! – Dann wird man wohl der Unmöglichkeit von
Prokofieffs Vorstellung auf die Spur kommen. Soll es wirklich der Geist,
der sich in Rudolf Steiner verkörpert hat, notwendig haben, einem
Bodhisattva, der erst in drei Jahrtausenden die Buddha-Würde erlangen
wird, seinen astralischen Leib hinzuopfern, nur um seiner Inspiration
teilhaftig zu werden?
Man findet übrigens, ist man erst einmal aufmerksam geworden, die
Bestätigung an vielen Stellen in Steiners Vorträgen, z. B. auch in „Der
Orient im Lichte des Okzidents“, (9. Vortrag. GA 113), vorausgesetzt,
dass man sich die Mühe nimmt, genau, nämlich wirklich ganz genau zu lesen
und von der Untugend wegkommt, möglichst schnell möglichst viel aufnehmen
zu wollen, ginge es auch auf Kosten der so überaus wichtigen „Liebe zum
Detail“. Es könnte ja schließlich schon einmal jemandem aufgefallen sein,
dass ein Buddha als Mitglied einer Loge von zwölf Bodhisattvas erscheint,
wo doch die Würde des Bodhisattva eine Vorstufe zu derjenigen des Buddha
darstellt. Der Umgang mit solchen Fragen, die zunächst wie
Ungereimtheiten aussehen, bildet den Strebenden zum Erkenntnis-Sucher.
3. Opferung des Ätherleibes?
Durch 25 Seiten hindurch (81-106) versucht Prokofieff den Leser dazu zu
überreden, anzuerkennen, dass Rudolf Steiner von 1913 an seinen Ätherleib
derjenigen Wesenheit hinopferte, die man bezeichnen kann als den „zweiten
Adam“. Es wird da so viel von höchsten Mysterien in den niederen Verstand
und das, was dieser an Horizont zu bieten vermag, heruntergezogen, dass
ich darauf doch nicht näher eingehen möchte. Schon eingangs wies ich
darauf hin, dass es Prokofieff anlässlich der Besprechung der Mysterien
des Fünften Evangeliums an spirituellem Taktgefühl fehlen lässt.
Dieses angebliche Opfer Rudolf Steiners wird dann in unmittelbaren
Zusammenhang mit dem Bau des ersten Goetheanum gebracht. Niemand wird
bestreiten, dass hier wirklich von einem beispiellosen Opfergang Rudolf
Steiners gesprochen werden muß, aber diese Opferung wird nicht irgendwie
begriffen, wenn man sie zur Hingabe des Lebensleibes Rudolf Steiners
reduziert, zu einer Hingabe übrigens, die, wäre sie wirklich eine
Aufopferung des Ätherleibes gewesen, zum augenblicklichen Tod des
Opfernden geführt haben würde, es sei denn, man begreife diese Opferung
als eine Einwohnung jenes keuschen Ich in diesen Ätherleib. Dann aber
hätte das wohl zur Folge gehabt, dass man vom Geiste Rudolf Steiners
selbst nur noch in eingeschränkter Weise hätte reden können.
Es ergibt sich für Prokofieff als logische Konsequenz, „dass Rudolf
Steiner Kräfte seines Ätherleibes für die Bildung einer geistigen Hülle
um den Dornacher Hügel hingeben musste, einer Hülle, wie sie in alten
zeiten alle wahren Mysterienorte umgab und die jenen erhabenen geistigen
Impulsen als Gefäß dienen sollte, welche an diesem Ort sich herabsenken
wollten, damit er das Zentrum des Geisteslebens der westlichen Menschheit
werden könne.“ Diese „geheimnisvolle Beziehung zwischen Bau und
Baumeister“ ist ihm, wie sich dann zeigt, der Garant dafür, dass Dornach
diese Mysterienstätte war, ist und auf lange Zeit hin bleiben wird. Was
darin konkret vorgeht, das mag sich Prokofieff recht schön ausgedacht
haben. Einen Eindruck hatte er davon nicht, da er erst im Winter 1982/83
zum ersten Mal nach Dornach kam und den Bau sowie die Menschen, die ihn
beleben und bevölkern und mit ihrer geistigen Substanz füllen, kennen
lernte.
4. Opferung des physischen Leibes?
Was nun die Opferung des physischen Leibes Rudolf Steiners anbelangt, so
wird der Eindruck erweckt, dass es sich um einen ganz
selbstverständlichen, gesetzmäßigen Vorgang handelte, der sich im
Zusammenhang mit den vorangegangenen Opferungen der leiblichen
Wesensglieder in Anlehnung an die siebenjährigen Lebensepochen vollzogen
hat. Steiner selbst löste mit der Abhaltung der Weihnachtstagung diese
seine Opferung aus, indem er die Fehler, Irrtümer und Unzulänglichkeiten
der Mitglieder mit seinem Karma verband. (Seite 133). Die Frage, ob denn
nach dieser Weihnachtstagung, nach dieser Grundsteinlegung eines neuen
Goetheanum und einer neuen Anthroposophischen Gesellschaft in die  H e r
z e n  eines jeden einzelnen Mitgliedes nicht der Funke hätte zünden
müssen,, so dass das Aufsichnehmen des Gesellschaftskarmas keineswegs zur
Zerstörung der physischen Kräfte Rudolf Steiners hätte führen müssen,
wird gar nicht erst gestellt. Alles ist für Prokofieff in schönster
Ordnung, das Opfer Steiners, Dornach als Mysterienstätte und die
Menschen, die die Mitgliedschaft der Gesellschaft bilden. Diejenigen
aber, die daran zweifeln, dass man das, was heute im Goetheanum lebt, als
Mysterienstätte des 20. Jahrhunderts bezeichnen darf, sind, nach
Prokofieff „Anthroposophen“, die „bewusst oder unbewusst die Impulse von
Mächten fördern, die Rudolf Steiner daran hindern wollen, seine Aufgabe
zu vollenden“. Daß ein 28 jähriger zu solcher Meinung kommen kann, ist
begreiflich. Daß als Anthroposophen alt und grau Gewordene sie für
richtig halten, ist weniger verständlich.
Die von Rudolf Steiner ausgearbeitete Konstitution einer „Freien
Hochschule für Geisteswissenschaft“ geht von Sektionen und drei Klassen
aus. Das Vorhandensein und die Arbeit dieser Klassen hängt davon ab, dass
wenigsten 48 Initiierte, also Eingewihte des zweiten und dritten Grades
(Gesellen- und Meistergrad) ihre Wirksamkeit voll entfalten können. Man
nehme sich, eingedenk dieser Tatsache einmal Rudolf Steiners „Letzte
Ansprache“ vom 28.September 1924 vor, aber unter Öffnung der
Erkenntnisorgane und nicht nut verstandesmäßig. Von der Wirksamkeit
Eingeweihter kann aber in Dornach keine Rede sein, denn es sind die
Mitglieder der Klasse I – und die beiden anderen Klassen existieren nicht
– darauf angewiesen, dass jemand die Klassentexte Rudolf Steiners liest,
dass also vorgelesen wird, was Rudolf Steiner in früher abgehaltenen
Klassenstunden gesprochen hat. Ein Leiter einer lebendigen Klasse I
müsste aber, was doch einsichtig sein sollte, die Fähigkeit besitzen,
insoweit als ein „Träger des Wortes“ aufzutreten, dass ihm zur rechten
zeit die Inspirationen zur Abhaltung seiner Klassenstunde zufließen und
er sie in die Sprache umzusetzen vermag.
Es ist selbstverständlich, dass man niemandem daraus einen Vorwurf machen
kann, dass er nicht, obgleich berufen, Klassenstunden abhalten kann. Der
Vorwurf ist jedoch nachdrücklich zu erheben, wenn trotz dieses nicht zu
umgehenden noch zu verheimlichenden Tatbestandes der Anspruch erhoben
wird, Dornach als wirkliche „Hochschule für Geisteswissenschaft“, also
als ein Institut, das Eingeweihte zu Dozenten haben muß. anzuerkennen.
Wird Dornach so hingestellt, so verfälscht man die Sachlage. Juristen
nennen das „Vorspiegelung falscher Tatsachen“.
Prokofieff schildert die „vier Opfer“ Steiners, als seien sie so, wie er
es sieht, Tatsachen. Dabei übersieht er, dass man sich Tatsachen nicht
ausdenken, dass man sie nicht erfinden kann. Tatsachen wollen beobachtet
werden. Von der Beobachtung ausgehend kann man sie dann beschreiben.
Insofern betreibt Prokofieff eine Tatsachen-Vorspiegelung. Und dabei
geschieht ihm dann dies, dass er Rudolf Steiner, um den es ihm doch
eigentlich geht, völlig verliert. Er erkennt ihn nicht mehr als die
Individualität, als den unsterblichen Geist, als die Entelechie, die von
1961 bis 1925 in der Persönlichkeit des Rudolf Steiner ein Erdenleben und
in diesem eine bestimmte, höchst erstaunliche, einmalige Wirksamkeit
entfaltete, sondern „in ihm“ andere Wesenheiten, die sich Steiners
leiblicher Hülle bedienten, um ihrerseits wirksam zu werden, womit denn
beide, diese Wesenheiten und Rudolf Steiner, in ein schiefes Licht
gerückt werden. Ja, und dafür erfährt der Autor von Anthroposophen, die
das ganz gewiß nicht haben möchten, Lob.
Es sei noch auf eine symptomatologische Bemerkung, die eine der Ursachen
dafür zeigen kann, warum sich Prokofieff so verrannt hat, aufmerksam
gemacht: Es heißt auf Seite 119:
“… Es wäre notwendig gewesen, sich mit der Anthroposophie nicht nur als
einer kulturell-spirituellen Strömung zu verbinden, sondern sie als eine
rein esoterische in sich aufzunehmen. Dies geschah jedoch in jener Zeit
(gemeint ist um das Jahr 1919, d. Verf.) nicht unbedingt in jedem Falle.“
Mir scheint, dass an dieser Stelle ein Grundirrtum wie nebenbei seine
Formulierung findet. Prokofieff fasst Anthroposophie als zwar auch noch
kulturell-spirituelle, abereigentlich rein esoterische Strömung auf, die
aus der Welt der Ideen gar nicht heraustritt, ja nicht heraus will. Das
Interesse für den Sinnenschein ist ihm bereits soviel wie Verirrung. Für
ihn ist Anthroposophie soviel wie der Gegensatz zu Materialismus, also
Spiritualismus. Anthroposophie ist aber nicht dies, sondern, „esoterisch“
gesprochen, eine makrokosmische Wesenheit, die die geistige mit der
physischen Welt verbindet. Anthroposophie webt zwischen Materialismus und
Spiritualismus, ist eine mittlere und vermittelnde Wesenheit. Sie kommt
daher in der Naturbetrachtung Goethes, in seiner „anschauenden
Urteilkraft“, nämlich darin, von der ihm zunächst allein zugänglichen
Sinneserscheinung aufzusteigen zum Wesen der Erscheinung, bereits vor
Rudolf Steiner zum Ausdruck.
Weil Steiner bei Goethe einen Ansatz zur Entwicklung der Anthroposophie
bereits vorfand, konnte er von ihm ausgehen. Es wird ja gerne so
hingestellt, als seien die Weimarer Jahre Steiners fast soviel wie
verlorene Jahre gewesen, in denen er nur ausführte, wozu Karl Julius
Schroer nicht in der Lage war, was also Steiners Wirksamkeit eher
verzögert, denn gefördert hätte. Man möchte doch einsehen, dass Rudolf
Steiner in Weimar eine wesentliche Stufe seiner eigenen Entwicklung
erstiegen, ja die Grundlage zu all seinem späteren Schaffen gelegt hat.
Wer, wie Goethe, vom Phänomen ausgehend zum Erkennen des Urphänomens
vorschreitet, der geht von der sinnlich wahrnehmbaren Einzelerscheinung
aus, um zu deren Grundgesetz vorzudringen. Gelingt ihm dies, so ist er
bereits in der geistigen Welt und zwar in derjenigen der Urbilder.
Wer jedoch glaubt, dass die physische, die sinnliche wahrnehmbare Welt
einzig und allein eine Welt des Scheins sei – und das glaubt der
Spiritualist, wie der Materialist glaubt, nur diese Materiewelt sei
existent, - der kommt nicht zu Anthroposophie, sondern der verliert, in
unseren Zeiten wenigstens, den Boden unter den Füßen. Er kommt zu Luzifer.
Rudolf Steiner formulierte am 24. Dezember 1923 den ersten Paragraphen
der „Statuten“ so:
“Die Anthroposophische Gesellschaft soll eine Vereinigung von Menschen
sein, die das seelische Leben im einzelnen Menschen und in der
menschlichen Gesellschaft auf der Grundlage einer wahren Erkenntnis der
geistigen Welt pflegen wollen.“
Wir sehen, wenn wir genau sind, dass hier das Seelische im Menschen, das
ist sein Mittleres, angesprochen ist, das auf dieser Erde in einem von
dieser Erde herkommenden Leib und in der Gesellschaft von seinesgleichen
als Vermittlungswesenheit zum Geiste erscheint. Anthroposophie steht
ebenso in der Mitte zwischen Philosophie und Okkultismus, wie zwischen
Anthropologie und Pneumatismus. Rudolf Steiner hat das oft dargestellt,
z. B. in „Von Seelenrätseln“, in „Anthroposophie, ein Fragment aus dem
Jahre 1910“, in „Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophie und
Philosophie“, am weitestgespannten, tiefsten jedoch in dem
Grundsteinspruch zur Weihnachtstagung 1923/24.
Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass jeder, der nach Erkenntnis
strebt, von dem absehen muß, was ihn gefällt oder missfällt, dass er
vielmehr stets fragen muß, wie spricht dieses, wie spricht jenes Wesen,
wie ist die wahre Wirklichkeit. Wahr kann eben auch das sein, was einem
gar nicht gefällt. Eine Binsenweisheit. Aber kaum einer richtet sich
danach. Der Geistesschüler muß gerade mit sehr bestimmten und ganz
besonders schwer verdaulichen Wahrheiten konfrontiert werden. Er kommt
keinesfalls darum herum, oder er wird eben kein Geistesschüler. Solange
dies nicht in der Anthroposophenschaft allgemeine Anerkenntnis wird,
haben wir überhaupt keine Chance, so in das einzugreifen, dass wir Gutes
bewirken, und das hieße, dass wir wirkliche Hilfen anstelle von bloßen
Reden spenden, die einer Menschheit zugute kämen, die sich am Rande des
Abgrundes findet und ratlos ist.
(Vorstehende Rezension Finsterlins entnahmen wir der Zeitschrift „Erde
und Kosmos“, Schönau. Heft Nr. 3/1983)